Wieder einer von den Wilden (Tag 1010)

Nach Aufräumen, Mails beantworten, Rechnungen versenden, Einkaufen, Coronatest wieder bei meiner Ma. Heute ist alles irgendwie anders. Ich treffe sie im Gemeinschaftsraum an, im Gespräch mit zwei Mitbewohnerinnen. Wie immer freut sie sich mich zu sehen (Bastet sei Dank!), macht aber keine Anstalten den Gesprächskreis verlassen zu wollen. Also setze ich mich dazu.
Leute! Ein Novum! Die Damen reden gut gelaunt aneinander vorbei, den Gesprächsinhalten vermag niemand zu folgen, der nicht von Demenz geplagt ist. Es ist faszinierend zu beobachten mit welcher Ruhe und Entspanntheit die an Demenz erkrankten Damen stundenlang aneinander vorbeireden können und dabei den Eindruck haben – und vermitteln – sich bestens zu verstehen. Ich sitze dabei wie beim Tennis – die Bälle, die sich die Frauen da zuspielen, verstehe ich nicht die Bohne. Fühle mich wie bei Jandl oder Derida. Grins.
Bin dabei sehr froh – ich kapiere zwar eher nicht, was die hier machen, aber offenbar tut es ihnen gut. Mir fällt auf, daß sie sich oft gegenseitig anfassen – kurz eine Hand auf einer anderen Hand, ein kurze Berührung an der Schulter, und viel Gelächter. Mir erschließt sich eher nicht, worüber die Runde lacht. Ist aber auch egal! Man versteht sich auf einer Ebene, die sich mir nicht erschließt, aber offenkundig fühlen sie sich gut miteinander.
Es war der kürzeste Besuch seit März. Nach einer Zigarette am Balkon und ein wenig Quatschen zieht es die Mutter wieder in den Gemeinschaftsraum. Ich hatte – wie immer – einen halben Tag Zeit mitgebracht, bin aber heute erkennbar überflüssig und zu meiner Verblüffung schon um 15:30h wieder auf eigenen Wegen unterwegs.

Eine andere Welt, offenbar. So lange sie darin zufrieden ist, kann ich mich nur freuen.

[Nachgedanke: Ich begrüße immer alle, die ich treffe, kenne sie inzwischen alle mit Namen, und irgendwie haben sie mich in ihren Kreis aufgenommen. Wenn ich mich verabschiede, kriege ich immer einen Chor von »Tschüss«. Freut mich wirklich. Inzwischen darf ich auch mal helfen – und das ist nicht der Regelfall. Noch eine Klammer: Gebe irre Summen aus für Socken und Nachtgewänder. Die haben eine enorme Tendenz zum Verschwinden, trotz Labeling.]