Fahndung und soziale Teilhabe II

Ich rege mich ganz furchtbar auf über das Bürgergeld-Bashing von Merz und Konsorten, und stoße wieder einmal eine Recherche an. Fakt ist: Die Quote der sogenannten Totalverweigerer liegt bei 0,27% (je nach Quelle. Maximal jedenfalls bei 0,9%). Und weiter:

Das Bürgergeld an sich macht (wie auch sein Vorgänger Hartz IV) nur einen relativ kleinen und zugleich sinkenden Teil der sozialstaatlichen Ausgaben aus: Zwischen 2010 und 2023 hat sich sein Anteil von 5,8 % auf 4,1 % reduziert. Der Löwenanteil entfällt auf Gesundheit, Rente und Pflege. 2010 betrugen die Ausgaben für den Bürgergeldvorgänger „Grundsicherung für Arbeitssuchende“ 1,8 % des deutschen Inlandsprodukts. 2023 waren es nur noch 1,3 %.
Ausländische Bürgergeldempfänger machen aktuell mit 48% den Löwenanteil der Hilfebedürftigen aus. Es sind vor allem Geflüchtete aus verschiedenen Ländern, ein Großteil davon Frauen und Kinder.

Quelle: BfA bzw. LBBW

Irrwitzig wird es, wenn man sich die absoluten Zahlen ansieht. Knapp 54 Mrd. Euro – gesetzt man könnte diese Summe einsparen ohne verfassungswidrig zu handeln – wären für den Staatshaushalt ein Tropfen auf den heißen Stein. Mit einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer ließe sich ein vielfaches dieser Summe in die Kassen holen. Jedoch: das ist politisch nicht gewollt. Zu einem anderen Schluß kann man nicht kommen, denn seit 2010 ist überwiegend im Kultur- und Sozialbereich gespart worden. Also bei den (ökonomisch) Schwächsten der Gesellschaft. Dort ist schließlich auch kaum mit Gegenwehr zu rechnen – Anwälte sind teuer.

Wirft man einen Blick auf die Details, wird auch schnell klar, daß der Warenkorb, auf dem die Berechnung eines Bürgergeldes beruht, erstens nicht am aktuellen Preisniveau orientiert und zweitens in seiner gesamten Struktur dringend reformbedürftig ist. Die Gewichtung von 6,8% bei Möbeln, Leuchten, Geräten und Haushaltszubehör liegt deutlich zu hoch. Man braucht nicht alle Tage eine neue Waschmaschine. Dagegen ist ein Anteil von 25,9% für Wohnung, Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe zu niedrig. Sehe ich mir beispielsweise meine eigenen Wohnkosten an, komme ich lässig auf 38%, und damit geht es mir noch vergleichsweise gut. Die Mieten, Nebenkosten, Stromkosten sind deutlich gestiegen wie alle anderen Lebenshaltungskosten auch. Die gesamte Situation im Sozialbereich wird in der Öffentlichkeit völlig verzerrt dargestellt. Man kann vom Regelsatz schlicht nicht (über)leben. Jedenfalls nicht, wenn man ehrlich ist.

Was auch nicht zu begreifen ist: Das Bahn-Ticket-S für Bürgergeldempfänger kostet überschaubare 19 Euro. So weit so gut. Aber warum, verdammt!, ist es auf den AB-Bereich beschränkt? Ein Anschlussticket für den Bereich C kostet pro Strecke 1,70€ bzw. 2,30€ – da stößt ein armer Mensch schnell an seine Grenzen, und wird im Zweifelsfall an der einzigen Stelle sparen, wo er es kann: Am Essen. Was das wiederum für Folgen für die Gesundheit und damit für das Gesundheitswesen hat, kann man sich vorstellen.

Über soziale Teilhabe für wirtschaftlich arme Menschen brauchen wir gar nicht zu sprechen. Jene Freibäder, die privat bewirtschaftet werden, liegen selbst in den ermäßigten Preisen für Hilfeempfänger zu hoch, die öffentlichen Bäder sind da nicht viel besser. Auch: Ein nach Zeitfenstern und Ausstattungskategorien gestaffeltes Preissystem ist eine Sache, die erkennbar auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist. Was ist nur aus der guten alten Zehnerkarte geworden? Der freie Museumsbesuch – einmal mit Monat! – wurde ersatzlos gestrichen. Der Eintritt in die Gärten der Welt kostet ermäßigt 4 Euro, eine Familie mit zwei Kindern ist also direkt mit 16 Euro dabei. Das kann sich ein Bürgergeldempfänger nicht leisten.

Knappe und emotionale Zusammenfassung: Das Bürgergeld-Bashing ist eine Unverschämtheit. Die realen Zahlen ergeben ein völlig anderes Bild als die aktuelle Darstellung der Lage in Politik und Medien.
Wer sich die Zahlen ansieht und dennoch Zweifel an meinem Resumée hat, der erinnere sich bitte an einen Vorschlag aus der Politik in den letzten Tagen: ein verpflichtendes soziales Jahr für Rentner. Rentner! Menschen, die in der Regel ihr ganzes Leben lang gearbeitet haben. Die sollen jetzt geradestehen für politische Versäumnisse der letzten Jahrzehnte und die Tatsache, daß die Politik den – absehbaren, erkennbaren – demografischen Wandel schlicht ignoriert hat?!?

4 Kommentare

  1. Du hast in allen Punkten recht. Und es gäbe so viele gute Möglichkeiten zur sozialverträglichen Umgestaltung.
    Die alle seit Jahrzehnten bekannt sind, ebenso wie, daß das Merz’sche Geschwafel Bullshit ist.
    Ich weiß nicht, was passieren muß, um da was in sinnvolle Bahnen zu leiten, es scheint schier unmöglich
    Kotz!!

    1. Schlimmer noch. Die gesamte Debatte ist eine Nebelkerze zur – genau – Vernebelung der tatsächlichen Situation. Obendrein wird hier am rechten Rand gefischt.

      Es ist absolut widerlich. Wie wütend es mich macht, daß ein Teil der Bevölkerung diesen gequirlten Quatsch unbesehen glaubt, kannst du dir nicht vorstellen, ich schwöre. Zum 🤮

      P.S. Alle Zahlen sind öffentlich zu finden, eine Recherche nach googlen dauert keine Viertelstunde.

        1. Wollen würde ich schon mögen. Allein – es gelingt mir nicht. Mein einziger Erklärungsansatz: Zu faul die Aussagen zu überprüfen.

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