Berlin

»Welcome to Berlin« beim RBB. Ich bleibe sowas von hängen, schaue mir fünf von fünf Teilen in einem Rutsch an. Die Leute, um die es da geht, sind alle viel jünger, und doch finde ich mich so sehr wieder – Leben in Berlin!
Fünf oder sechs Jahre, habe ich damals gedacht. Abgesehen von meiner Heimatstadt war ich kaum je irgendwo länger geblieben. Liebe, Job, Lust auf etwas anderes – einen Grund für einen Ortswechsel gab es immer. So viele Städte, die ich gut kenne in diesem Land. Frankfurt, Darmstadt, Augsburg, München, Köln, Bochum, Münster, Schramberg, Bad Homburg u.a. Zugvogel.
Nirgendwo habe ich mich freier gefühlt als hier in Berlin. Das ist immer noch so, nach fast achtzehn Jahren in dieser Stadt.
Der Anfang war leicht. Über die Bloggeria (Das ist Geschichte. Nur eine handvoll von uns Urgesteinen schreibt immer noch. Ich selbst begann 1999 und habe x Domains durchlaufen, aber bis heute nicht aufgehört.) jede Menge Menschen, die man hier kannte, und die den Einstieg wirklich lässig gemacht haben. Auch typisch für diese Stadt: Zu Niemandem aus diesem Kreis habe ich heute noch Kontakt, mein Freundeskreis ist heute ganz anders.

Was ich liebe an Berlin: Die Leute sind wirklich tolerant (die Kölner Toleranz ist in Wirklichkeit ein Mangel an Interesse. Davon ein andermal.) Du könntest im Kuhkostüm und mit lila Punkten im Gesicht in die S-Bahn steigen, und keiner würde dir mehr geben als den üblichen, beiläufigen Kenntnisnahmeblick. Jeder nach seiner Facon – das ist hier erfunden worden. An die ortsübliche Rauhbeinigkeit (euphemistisch als ‚Berliner Schnauze‘ bezeichnet) kann man sich gewöhnen. »Was woll’n se?« blafft mich die Dame im BVG-Laden an. »Oh. So schlimm? Einer von diesen Tagen?« kontere ich. Sie lacht. Entschuldigt sich. Der Rest des Gesprächs verläuft friedlich, freundlich, zielführend. Man gewöhnt sich schnell selbst eine Unmittelbarkeit und Direktheit an. Wie höflich die Leute anderswo sind, fällt mir heute nur auf, wenn ich mal die Heimatstadt besuche. Da weiß ich aber auch nie, was mein Gegenüber wirklich denkt. Kann mir in Berlin eher nicht passieren – for good as for bad.
Was ich auch mag: Das Berliner Du. Siezen ist hier selten bis unüblich. Man siezt den Arzt im Krankenhaus, den Vodafone-Menschen, der plötzlich auf der Matte steht, und noch so diesen oder jenen, aber das Du ist hier normaler als anderswo. Hilfsbereitschaft läuft hier auch anders: Du mußt den Mund aufmachen, dann stehen sofort mindestens drei Leute parat. Aufdrängen tut man sich in Berlin nicht.

Überschaubar ist die Stadt eher nicht. Nach so langer Zeit gibt es noch immer Kieze in dieser Stadt, die ich nie gesehen habe. Der Berliner ist entsprechend ein ziemlich kiezorientiertes Geschöpf. Geht mir genau so (Steglitz? Ich soll nach Steglitz?! Nicht im Ernst! Weltreise!) Dafür gibt es hier einfach alles. Jede erdenkliche Art von Kultur und Subkultur, die Küchen der ganzen Welt, die Sprachen auch. Die Ladenöffnungszeiten taugen auch für Abend- und Nachtgeschöpfe. Jeden ersten Sonntag im Monat kann man eine Menge Museen kostenlos besuchen. Im Park am Planetarium finden in jeder Sommerwoche (April bis September) freie Sport- und Yogakurse statt. Ich habe längst den Überblick verloren über die Dinge, die man hier zusammen mit anderen machen könnte ohne Geld ausgeben zu müssen.

Mir gehen an der Stadt die gleichen Dinge auf den Sender wie jedem anderen Berliner: Die wilden Müllkippen (wäre sicher anders, wenn die Abfallbetriebe niedrigere Preise für den Kubikmeter Abfuhr aufrufen würden), die inzwischen irrwitzige Wohnungsnot (Leerstandsstrafen wären eine Idee. Die Haie lassen den Raum lieber leerstehen als faire Mieten zu erheben), die Gentrifizierung … Da habe ich Glück gehabt. Ich liebe meine kleine Wohnung im Weltkulturerbe mit begrünten Innenhöfen und großen Balkonen. Wir kamen früh genug.

Noch etwas, das ich liebe: die Verschenkekultur. Auf unserem Müllhof ist es Brauch Dinge, die okay sind, wir aber nicht mehr brauchen, an einer bestimmten Stelle abzulegen. Die dort aufgefunden Sachen, die ich in meinen Haushalt aufnahm sind inzwischen Legion. Und ich rede nicht von den Leuten, die ihren Schrott an der Straße abstellen, mit einem ‚zu verschenken‘-Zettel, um sich die Abfuhrgebühr zu sparen. Die gibt es auch.

Was wirklich geil ist: Die Stadt ist grün. Wo immer ein Quadratmeter Platz ist, wird der Berliner einen Baum oder Strauch pflanzen – und nicht unbedingt den Vermieter vorher fragen. :-) Parks und begrünte Plätze gibt es an jeder Ecke (cavete Potzdamer Platz. Ein Reissbrettprojekt gruseligster Couleur. Betonterror und Windschneise. Mein Vater hat immer großen Wert darauf gelegt nur für die Baurevision verantwortlich gewesen zu sein, nicht für die Planung. )

Ob man hier einsam ist, sucht man sich aus. Ich kenne meine Nachbarn alle, nicht nur in meinem Aufgang. Mit meinem unmittelbarsten Nachbarn bin ich befreundet. Begegnungsmöglichkeiten gibt auch jenseits dessen viele.

Wenn ich am Leben in dieser Stadt eine Kritik habe, dann diese: Das Leben ist hier ziemlich jung. Mit über 50, über 60 muß man schon sehr suchen um sein persönliches Biotop zu finden.

Fazit: Finde ich keine Stadt an einem warmen Meer, in der ich mein Leben bezahlen kann, und in der man eine Idee von Demokratie hat, werde ich wohl auch hier sterben – in meinem Berlin.

6 Kommentare

  1. Nettes Loblied auf Berlin. Könnte ein Berliner seit 200 Jahren nicht besser sagen. Mal weg, unbedingt immer zurück selbstverständlich „alternativlos“.
    Wo findet man eine Stadt, die seit hunderten von Jahren unregierbar und doch so schön ist. Kann man nicht meckern! = höchstes Lob.
    Nett, das eine junge Frau meint, man könnte auch als Ältere hier leben.
    Aus Erfahrung man kann auch als Alter weißer Mann hier gut leben.
    Abgewandelt:
    „Berlin ick liebe dir. Ob dir, ob dich, dett weeß ick nich. Ick liebe dir auf alle Fälle“ Schönen Berlin tach.

  2. Junge Frau? Darüber kann man streiten.

    Was ich noch vergessen habe: Die Berliner jammern ständig über die BVG. Das sollte sie lassen, denn sie tun es auf sehr hohem Niveau. Die einzige mir vertraute Stadt, die ein ähnlich gutes Nahverkehrssystem hat, liegt nicht in Deutschland. Frankfurt, München, Stuttgart, Köln – alle stinken furchtbar ab gegen die BVG, das kann ich aus eigener Erfahrung sagen.

    1. Über Alter streite ich nicht. Mein Spruch:
      Geburtstag ist noch lange kein Grund älter zu werden. Gilt.
      Über die BVB allerdings muss man meckern.

      1. Über die BVG allerdings muss man meckern. – Um mit Tetsche zu sprechen: Bieso? Barum?

          1. Vergleiche das mal mit Köln oder Frankfurt – dann weeste, was du an der BVG hast. 😄

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