Über Kitsch

Illustration Kitsch oder Kunst? An dem Versuch einer Unterscheidung sind schon große Geister gescheitert. Und kleinere, wie meiner. So stellte sich mir eher die Frage nach dem Warum. Warum gibt es eigentlich Kitsch?

Da war er nun, der Frosch.
In menschenähnlicher Haltung, die künstlerisch überlangen Beine lässig übereinandergeschlagen, ein mokantes Grinsen um das Breitmaul, die Vorderbeine wie Menschenarme verschränkt, saß er auf dem Rand der Küchenfensterbank. Ich mochte ihn auf Anhieb. Die menschenähnliche Anmutung und die dennoch naturalistische Präzision, in der Schwimmhäute, Vorderfinger, Augen-, und Kopfform dargestellt waren, nahmen mich für ihn ein. Er wirkte wie eine ironische Bemerkung zum menschlichen Leben. Und ironische, ja selbst sarkastische Bemerkungen zum menschlichen Leben kann es einfach nicht genug geben. Damit man es aushalten kann. Das Leben, nicht die ironischen Bemerkungen.

„Wo hast du den denn her?“, fragte ich die Freundin. „Den“, kam es gedehnt zurück, „den habe ich von einer Freundin, die mir ständig solchen Nippes in die Wohnung schleppt. Ich vermute, sie hält meine Behausung für zu karg und unsinnlich. Und wäre sie nicht mindestens jede Woche einmal bei mir, ich hätte dieses kitschige Vieh längst entsorgt.“
Kitschiges Vieh? Diese hübsche kleine Ironie in Bronze? Auch was das vermutete ‘karg und unsinnlich’ betraf, stimmte ich der Schenkenden im Stillen zu. Jedoch traute ich mich nicht an Ort und Stelle ein glühendes Plädoyer für Bronzefrösche zu halten. Die dunkle Vermutung, daß eine solche Brandrede unser von Hochachtung geprägtes Verhältnis nachhaltig hätte stören können, hieß mich schweigen. Es blieb bei einem halbherzigen „Also MIR gefällt der.“

Wochen später. Ein Besuch bei einer Bekannten, die gerade einen Zeichenkurs erfolgreich abgeschlossen hatte. Über dem Sofa, in einem goldfarbenen, verschnörkelten Plastikrahmen, hing die Bleistiftzeichnung eines Pierrots. Und zwar in der Gestalt, die eine sogenannte Massenkultur ihm geben zu müssen meinte: trauriger Gesichtsausdruck, Träne auf der Wange, weit aufgerissene Augen, Kindchenschemagesicht. „Guck’ mal“, sagte Irene. „Toll, nicht? Meine Abschlußarbeit im Kurs, freihändig gezeichnet.“
Ich strich meine steil aufgerichteten Nackenhaare unauffällig mit fahrigen Händen herunter, und rettete mich in Fragen zum benutzten Material, zum Zeitaufwand und der Bleistifthärte, um nicht gezwungen zu sein meinem kalten Grausen unverhüllt und unhöflich Ausdruck zu verleihen. Doch da war auch noch ein anderes Gefühl. Rührung vielleicht? …

Der goldene Plastikbilderrahmen hatte eine ältere Erinnerung angestoßen: Timo und Hartmut, seit mehr als acht Jahren ein Paar, hatten sich schließlich doch entschieden eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. Timo, an dem meiner Meinung nach ohnehin ein genialer Innenarchitekt und Raumausstatter verloren gegangen ist, werkelte, malte, klebte, schreinerte wochenlang.
Als die beiden mich zur Besichtigung einluden, war ich hin und weg.
Helle, hohe Räume, mediterraner Stil, schlicht und stimmig. Pastelltöne, helle Hölzer, schöne Stoffe, schlichte Möbel, sparsame, passende Dekoration. So lange man nicht aus dem Fenster auf den Frankfurter Hinterhof schaute, fühlte man sich wie in einem der französischen Landhäuser, die man zum Beispiel in der Bretagne noch findet.
Dann öffnete Timo mit großer Geste die letzte Tür: „Und dies ist unser Boudoir.“
Mir blieb die Spucke weg. Weinrote Seidentapete – oder jedenfalls etwas, das wie Seidentapete aussah – golden gemustert, großformatige Spiegel in goldfarbenen Rahmen, Tischleuchten, die wie wilde Pflanzenranken aussahen, unter der Decke ein Kronleuchter voller Glaskristalle, das Bett ein löwenfüßiges breites Ungetüm, hoher Himmel auf gedrechselten Säulen inklusive, natürlich auch dieses Bett eine Orgie in weinrot und gold.
Das war unglaublich kitschig. Das war phantastisch. Das war wunderschön. Ein Zimmer wie aus einem Mantel- und Degenroman, ein Zimmer wie aus einem Märchen. Bis zum heutigen Tage ist diese die einzige fremde Wohnung, die ich sofort bezogen hätte, ohne irgend etwas zu verändern.

Da konnte man schon ins Grübeln kommen. Warum liebte ich das kitschige Boudoir, wo mir doch der Pierrot im Goldrahmen den Schweiß auf die Stirn getrieben hatte? Wieso fand meine Freundin den Bronzefrosch im Grunde untragbar, und ich hätte ihn mit Freuden besessen? Stimmigkeit schien eine Rolle zu spielen, persönlicher Geschmack sowieso… oder? Das Thema ließ mich nicht wirklich los.

Dann hatte ich einen Termin in einem Norman-Foster-Haus in Köln. Ein Architekt aus dem Bekanntenkreis meiner Eltern wollte, daß ich ihm eine Visitenkarte mache, und wir verabredeten uns in seiner Wohnung, bei Wein und Tapas, so gegen acht, nach der Arbeit. Die Tapas und der Wein waren gut, das Gespräch effektiv und freundlich. Und doch fühlte ich mich unwohl. Der Raum in dem wir auf teuren Designersesseln saßen – man hätte ihn ein Wohnzimmer nennen können – war mir einfach zu abweisend. Die Möbel waren schön, die Wände aber kahl, und der Raum so gar nicht wohnlich. Es fehlte ihm jeder persönliche Charakter. „Gerade Linien, karge Schlichtheit, null Atmosphäre. Man könnte auch im Showroom eines Möbelhauses sitzen“, dachte ich und fröstelte.
Da fiel mein Blick auf ein Detail: Ausgerechnet auf dem Fuß einer Wagenfeld-Leuchte, die auf dem Sideboard stand, saß eine kleine weißgrundige Porzellankatze. Ein unglaubliches Geschöpf: Katzig in Anmutung und Haltung, aber bemalt mit einem Rankenmuster in blau. Blau!
Der Architekt war meinem Blick gefolgt und lächelte: „Von der kann ich mich einfach nicht trennen. Ich habe sie aus Prag mitgebracht. In der Zeit, in der meine Tochter dort studiert hat.“ Und plötzlich war das fast klinisch eingerichtete Zimmer angenehm, von schlichter Schönheit.

Da endlich dämmerte es mir: Kitsch offenbart eine Schwäche, eine Sehnsucht.
Kitsch macht den Wunsch nach Gefühlen, nach Romantik, nach einer heilen Welt offenkundig.
Kitsch macht menschlich.

Und sage bloß niemand ein böses Wort über die Spardose in Gestalt eines dicken, verlegen dreinblickenden Tonelefanten, die seit kurzem auf meiner Fensterbank wohnt.

(Eine Geschichte aus 2010, auf einer Plattform veröffentlich, die es längst nicht mehr gibt.)