Erschütterung

Ungefähr eine halbe Stunde sitze ich auf meinem Sofa, und kann mich nicht rühren. Buchstäblich starr vor Schrecken.

Nach Tagen erfolgloser Versuche ist es endlich gelungen mit meiner Mutter selbst zu sprechen – und es ist furchtbar. Das, was die Fachleute situative Orientierung nennen, ist weg, einfach weg. Nur weil ich sie kenne, kann ich ihre wirren Sprünge überhaupt noch nachvollziehen, aber nicht alle.
Verwirrt ist kein Ausdruck. Und Angst hat sie. »Wovor?« frage ich. »Davor überhaupt nicht mehr Herrin meines Lebens zu sein«, artikuliert sie.
Wie meinen? Das ist sie schon seit über einem Jahr nicht mehr, weil sie es immer wieder abgelehnt hat überhaupt Entscheidungen zu treffen, worauf hin ich entschied und die diversen Dienste entsprechend instruierte.

Sie weiß nicht, wo sie ist, fragt, wie es denn nun weitergehe. Ich erzähle von dem anstehenden Krankenhaus, der elfte Januar immerhin sagt ihr etwas. Erkläre, daß wir danach wissen werden, was genau mit ihrem Kopf nicht stimmt, und erst auf dieser Basis enscheiden können, was weiter geschieht. Die Giftigkeiten aber kann sie immer noch. Nadelspitzen, Schuldzuweisungen, einzig an mich, als hätte ich nie Geschwister gehabt. Und doch – ich fühle ihre Verzweiflung, ihre Unruhe. Irgendwann fragt sie ganz klein »Wird das jetzt immer schlimmer?«
Vor Wochen bat sie mich ihr die Wahrheiten zu sagen, die die Ärzte ihr nicht erzählen. Jetzt schweige ich. Ist es wirklich an mir ihr zu sagen, daß sie sich immer weiter verlieren wird, das es keine Gegenmittel gibt? Ist es gut für sie, wenn ich ihr das jetzt sage?
Ich entscheide mich für ein ‚Das wissen wir noch nicht.‘ Dann verabschieden wir uns und legen auf.

Ich weine eine Weile. Die Mutter, die ich kannte, werde ich nicht wiedersehen. Fühle mich überfordert – ich mache das alles zum ersten Mal und habe keine Baupause dafür.
Klar ist mir nur eins: ich werde tun, was mir möglich ist, um meiner Mutter soviel Lebensqualität wie möglich zu verschaffen.