Wilde Tage

Die Reise in die Heimatstadt verläuft reibungslos und regt mich sehr auf. Wenn man auf seinem Platz angekommen ist, ist alles gut. Vorher verhalten sich die Reisenden aber wie immer, also wie die letzten rücksichtslosen Kamele. Wenn jemand – ungelogen! – siebzehn Minuten braucht, bis er sich einsortiert hat und den Gang freigibt, stauen sich die Leute. An Abstand ist gar nicht zu denken, abgesehen vom Maskentragen verhalten sich die Menschen als wäre alles wie früher.

Meine Ma sieht viel besser aus als ich befürchtet hatte, und ich kann ihre Tapferkeit nur würdigen: Die Rippen- und Brustprellung vom letzten Sturz sieht auch nach zehn Tagen noch gruselig aus, und muß verdammt Schmerzen machen, dennoch will sie hundert Dinge selber tun und sitzt selten still, vielmehr nutzt sie jeden Anlass zur Bewegung, wie langsam und vorsichtig auch immer.
Ich komme in der Liste der Dinge, die ich zu tun kam, gut voran, und falle immer wieder in rasenden Zorn – Pflege- und Medikamentendienst rechnen nicht mit meiner Anwesenheit, ich werde Zeuge von Übergriffen (Aufschließen ohne vorher geklingelt zu haben, zum Beispiel), und muß sogar dem Hausarzt auf die Füße treten, der einen groben Medikamentierungsfehler gemacht hat (Bastet sei Dank für meine medizinisch-pharmazeutische Grundausbildung!) und anschließend in den Urlaub fuhr.
Nun wissen alle, daß sie fürderhin – engmaschig – einen Helikopter über ihrer Tätigkeit haben. Offenbar geht es nicht anders. Aber genau das macht mich rasend vor Wut. Mit welchem Recht behandelt man einen alten Menschen, der geistig orientiert ist, nur einfach zu schwach und zu erschöpft für Auseinandersetzungen, wie ein unmündiges Kind oder sogar nach der Maxime ‚Die kann sich ohnehin nicht mehr wehren, also mache ich es so wie es mir in den Kram passt‘? Mir kommt noch immer der Qualm aus den Ohren.
Mit der Rückkehr des Arztes aus dem Urlaub werden wir den Medikamentendienst wechseln. Sobald das geschehen ist, werde ich einen vorbereiteten (Beschwerde-)Brief der Kasse zukommen lassen. Der Gesundheitsdienst ist bekanntermaßen eine Goldgrube, aber diesem verdammten Laden werde ich nach besten Kräften in die Suppe spucken sobald das meiner Mutter nicht mehr auf die Füße fallen kann.

Ich fahre nach Berlin zurück mit dem unguten Gefühl allen auf die Finger schauen zu müssen, sehr regelmäßig und noch mehr als bisher.
Was ist das für eine Gesellschaft, die ihre alten Menschen behandelt wie den vernachlässigbaren unproduktiven Rest von was-auch-immer? Die Würde des Menschen ist antastbar.