Nicht nur Schwarz

Sechs Uhr war es gestern früh. Schlaf wird offenbar überschätzt.

Um Zehn kümmerte ich mich um die Tiere, dann um zwei wichtige Mails und legte mich anschließend noch einmal hin. Halbzwei wurde es dann bis ich wirklich fit war. Aber was soll’s – es ist allenthalben sehr ruhig. Nicht, daß sich nichts rührt, aber irgendwie sind alle – auch die Klienten – gemächlicher und irgendwie entspannter.

Sollte es wirklich so sein, daß diese Pandemielage auch positive Seiten in uns zu Tage fördert?
Ich habe Tag um Tag hundert Dinge zu tun – wie immer schon – aber niemand wundert sich mehr, wenn ich kurz vor Mittag noch am Telefon »Guten Morgen.« sage. Kein Mensch zeigt Irritation, wenn ich Verträge per Mail versende – um Zwei in der Früh. Post (snail mail) erreicht mich, und damit das ganze Haus, seit einigen Wochen selten vor dem frühen Nachmittag, und niemand scheint sich daran zu stören. Diverse Paketdienste fallen in Scharen ein – und treffen immer jemanden an, der auch die Päckchen für die Nachbarn annimmt. Videokonferenzen werden stillschweigend nicht mehr vor Zehn angesetzt und laufen inzwischen recht routiniert und ohne technische Aussetzer, allerdings nicht ohne die Intervention von Kleinkindern oder Katzen – zum allgemeinen Amusement und ohne jeglichen Stress. Berufliche Telefonate haben einen Unterton von Privatheit und gegenseitiger Sorge. Meine Gyn konnte ich über vier Wochen nicht erreichen, krankheitshalber hieß es im Praxisaushang, und mußte mir einen ziemlichen Knoten ins Knie machen um an meine Medikamente zu kommen. Vor Kurzem sah ich sie wieder »Schön Sie wieder gesund zu sehen,« sagte ich »was immer es auch war.« – Sie zuckt die Schultern und lacht: »Zweimal Rot bei den Kindern.« Achso. Na dann. Geht schon.
Bei ‚meiner‘ Apotheke bestellte ich eine FFP2-Maske (um einer Zusammenkunft willen, die ansteht und die ich nicht absagen möchte). Als ich sie abholen wollte, hatte man mich missverstanden und mir fünf davon reserviert. »Danke. Zwei nehme ich mit – eine für jemand anderen, die andern haben andere sicher nötiger.« lehnte ich ab. Den Blick der Apothekerin vergesse ich nicht wieder – der war wie ein Schulterklopfen.
Auch das, was ich an Weihnachten niemals mochte – diese allgemeine Raserei, die Hektik, von last-minute-Geschenken ganz zu schweigen – fällt dieses Jahr aus. Man hatte Wochen und Monate Zeit sich darauf einzustellen, daß die üblichen Familienzusammenrottungen womöglich würden ausfallen müssen. Offenbar war das nicht nur mir klar, denn die zwei letzten ‚Einkaufstage‘ vor dem Lockdown führten meist nicht zu überfüllten Einkaufsstraßen, und auch nicht zu Hamsterkäufen wie noch im April (oder war es Juni? Ich weiß es nicht mehr.)
Mag es angehen, daß uns diese Situation wieder klar macht, was vergessen schien: Was wirklich wesentlich ist, auch und gerade im Umgang miteinander?

[Der Header bzw. das Photo zeigt die Taschen voller Päckchen und Großbriefe, die ich dieser Tage in die Poststelle getragen habe.]