Paradoxe Effekte

Ich hatte ja gar keine Ahnung wie gut es eigentlich noch war. Jetzt hat’s gekracht, mit Karacho. Meine Mutter ist am späten Abend gestürzt, hatte den roten Knopf nicht an der Frau, und hat die Nacht auf dem Küchenboden verbracht, es müssen zwischen acht und zwölf Stunden gewesen sein. Das muß sich furchtbar angefühlt haben …

Der Notrufdienst des ASB kam am nächsten Morgen um 8:30h weil die Tagestaste (-> eine Art Totmanschaltung – wird die Taste nicht alle 12 Stunden gedrückt, rückt ein Notfallteam aus, wenn der Probant auch nicht ans Telefon geht) nicht betätigt worden war. Natürlich (seufz) steckte der Schlüssel von innen, also das ganze Programm: Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst, Schlüsseldienst, Gefahr im Verzug, Tür aufbrechen, Notfallteam. Mich riefen sie um 8:50h an: Ma auf dem Weg ins Krankenhaus. Erstmal glimpflich für Ma: keine Brüche, keine Gehirnerschütterung, keine Unterkühlung, ein paar blaue Flecken aber keine großflächigen Prellungen, jedoch die Zuckerwerte komplett durcheinander, Desorientierung, Dehydration, allerdings ahnbare psychische Schäden.
Da ging es für mich richtig los. Habe den ganzen Tag am Telefon verbracht. Das Krankenhaus habe ich gefühlte hundert Mal angerufen, doch war meine Mutter bis in den späten Nachmittag in diversen Untersuchungen, sie sprach ich erst sehr spät an diesem Tag. Dafür Konferenzen mit dem Internisten, mit Handwerkern wg. der Reparatur der Tür, mit dem Pflegedienst, mit dem Notrufdienst, mit der helfenden Nachbarin, mit der Krankenkasse, mit dem Sozialdienst, mit Familie und Freunden… – Koordinationszentrale und Ansprechpartnerin für alle: ich.
Mit meinen Gefühlen habe ich gar nicht gesprochen (‚Haltet euch mal gerade ‚raus, ich habe zu tun‘) 500 Kilometer weit weg, mitten im Corona-Hotspot – Pragmatismus. Es ist gut, daß ich die Zentrale/den information hub gebe, vor Ort könnte ich auch nicht mehr bewirken.

To make a long story short: Das Krankenhaus habe ich erfolgreich bequatscht Ma bis Freitag zu behalten, damit haben die Ärzte genug gesehen um nicht mehr daran zu denken sie nach Hause zu entlassen. Jetzt geht es demnächst auf eine andere Station um sie hinreichend zu mobilisieren und daran schließt sich hoffentlich die schon seit Monaten nötige Reha an, gegen die sie sich bisher komplett gesperrt hatte. Mein Bruder hilft mir unter anderem bei der Recherche zu künftigen Möglichkeiten – früher oder später wird sie auch mit Unterstützung nicht mehr alleine wohnen können – wir müssen perspektivisch denken. Des Weiteren: So wie es aussieht erklärt sich der Mann in meinem Leben bereit mit mir in die Mutterstadt zu fahren und in Abwesenheit meiner Mutter Unterlagen zusammenzusuchen und ein paar Dutzend Dinge gerade zu ziehen. Wir werden sehen.

Freitag auf Samstag der Sturz. Jetzt ist Mittwoch. Meine Telefonanlage sagt, ich habe Samstag, Montag, Dienstag, Mittwoch im Schnitt sechs Stunden am Telefon verbracht.

Jetzt atme ich zum ersten Mal seit Tagen durch. Alle notwendigen Stellen sind orientiert, ich sorge für Direktverbindungen unter Menschen, die sich bisher fremd sind, zum Beispiel für die Abstimmung von Besuchen bei Ma unter Coronabedingungen, und bin erst einmal sehr froh, daß sie mindestens für die nächsten zehn Tage in guter Obhut ist (So sie sich nicht noch irgendwo querstellt – klopf auf Holz.) Sie lebt, sie hat sich nichts gebrochen, ist geistig hinreichend da. Dankbarkeit.

Mit dieser Sachlage geht der Druck von deutlich zuviel Bar schlagartig auf Null. Dammbruch. Ich heule eine Stunde wie ein Schloßhund. Jetzt geht es dann. Einen Schritt nach dem anderen. Schlafen kann ich nicht, bin aber nun ganz ruhig und gelöst.

So fühlt es ich wohl an im Auge eines Hurricans.