Wer bin ich und wenn ja wieviele?

Joel stolperte über ein paar Zeilen im Blog eines Freundes:

I read some old posts on here today and it makes me sad that for so much of the last few years, I don’t have any memories written down. I admire the stamina, and envy the archive, of friends like Joël who blog every single day.

Ja, es ist gut so ein Archiv zu haben. Was ich als besonderen Vorteil empfinde ist die Möglichkeit Entwicklung nachzuvollziehen, innen wie außen. Wie habe ich mich in einer bestimmten Situation gefühlt und verhalten? Passiert mir heute eine ähnliche, denke ich anders darüber, handle ich anders?
Oder ein Beispiel im Außen: Wie naiv, trotzig, entspannt war ich zu Beginn der Pandemie – und dann kann man über drei Jahre dabei zusehen, wie mir die Naivität verloren geht, ich zu realistischeren Einschätzungen komme, und mit welchen Strategien ich versuche diese Lage zu bewältigen und zu verkraften.

Auch schön: Die Möglichkeit Resonanz zu bekommen. Seltener als ich mir wünschen würde, aber immer hilfreich, auch und gerade als Korrektiv und im Dissens.

Die Sache hat aber auch Haken. Man kann sich über Jahre dabei zusehen, wie man immer wieder diesselben Fehler macht.😄
Richtig unschön wird es, wenn man sich Stalker einfängt (ist mir seit 1999 zweimal passiert und war richtig fies; auf der nightcat ist die Steuerungstechnik nun so ausgefeilt, daß ich so etwas im Keim ersticken könnte, ohne großen Aufwand.), aber es gibt noch einen anderen Punkt, der mitunter eine Rolle spielt: Je näher dir ein Leser im realen Leben ist, desto wahrscheinlicher ist es – ironischerweise – falsch gelesen zu werden. Nicht ohne Grund gibt es hier mein Cave – es ist einige Male passiert, daß sich jemand gemeint/angegriffen/getroffen fühlte, von dem ich gar nicht gesprochen hatte.
Auch: Öffentliches Schreiben ist und bleibt etwas anderes als ein Tagebuch in der Schublade; vieles muß man zum Schutz Dritter chiffrieren (die nördliche Freundin stolpert zum Beispiel immer mal wieder über meine Kryptik), über anderes kann man von vornherein nur mit Passwort oder sonstwie verdeckt schreiben, was ich hasse, weil es dem Prinzip meines Journals widerspricht: Offenheit. Transparenz.

Unterm Strich aber gebe ich Thierry Recht. Archiv, Erinnerungen, Durchhaltevermögen, Resonanz, Schreibdisziplin – das ist alles nicht so übel.