Virtuelle Welten

Freiberufler im Homeoffice, die den Bekanntenkreis erweitern möchten, haben ein technisches Problem: Man sitzt viel am Schreibtisch, ohne Kollegen, die Wahrscheinlichkeit im Supermarkt neue Freunde zu finden ist eher überschaubar.
So meldete ich mich zum ersten Mal in meinem Leben auf einer Plattform an. Erstellte ein aufrichtiges Profil mit einem aktuellen Photo, machte explizit, daß ich Bekanntschaften/Freundschaften suche, keine Flings, keine Lebenspartner, und Menschen in meiner Altersgruppe.
Inzwischen kann ich mir nur die Haare raufen. Lesen die Leute?
Ich kann mich vor Anfragen kaum retten – erstaunlich ohnehin – und kriege Chatanfragen von Menschen, die dringend eine Partnerschaft fürs Leben suchen, Raucher nicht ertragen und oft viel zu jung sind. Es ist zum Verrücktwerden. Nächste Woche werde ich mich wieder abmelden, denn das wird nicht funktionieren. Ich muß einfach mehr nach draußen.

Was ich mich wirklich frage: Wieso glauben die Leute auf diesem Interface einen Menschen zu finden, der passt, wenn sie Profile erstellen, die mehr als mager sind? Warum suchen Männer > 70 nach Frauen nicht über 45 Jahren? Wieso gibt es kaum gute Portraitphotos? Mein Soziologenhirn springt an, rätselt herum. Wie will man finden, was man sucht, wenn man sich nicht die geringste Mühe gibt das eigene Sein einigermaßen darzustellen? Von Aufrichtigkeit ganz zu schweigen.
Ghosting nach gestartetem Dialog ist an der Tagesordnung, Verbindlichkeit und das Privatäquivalent zu Vertragstreue fallen meist ersatzlos aus …

Das ist eher ein Gruselkabinett als eine Möglichkeit neue Menschen kennenzulernen. Und es liegt ganz klar nicht am Interface, das ist ganz gut geschrieben. Es liegt daran, wie das Gros der Nutzer damit umgeht.

Ich bin raus.

3 Kommentare

  1. SenderJerewan Entscheidung eine Plattform zu benutzen um kennen lernen. Das ist bei einer Platten Form nicht möglich. Nur eine Seite zu sehen.
    Wie um alles in der Welt kommst du darauf Aufrichtigkeit zu erwarten?
    Diese Tugend gibt es nur noch als seltene Erde.
    Gesellschaftsfähig ist das Gegenteil. (Werbung, Politik Berichterstattung)
    Der Mensch hat nur 5 Sinne einen anderen zu erkennen.
    Die braucht er auch und sie sind nicht internetfähig.
    Nicht mal sehen. Werden es wohl auch nicht.
    Es bleibt nur der Supermarkt, die Parkbank, der Balkon, das Kino und Theater usw.
    Ganz altmodisch, wie bisher. Angesichts des blakenden Vollmondes und deines Berichts ging mir der Gedanke an den Doppelsinn des Wortes “ scheinen“ in den Kopf. Real gibt er Licht, scheint also im ersten Sinne. Der trügt nicht. Im Netz scheint es anders. Es scheint nur Schein, real ist selten. Ich umarme dich und hoffe, du kannst es fühlen, obwohl es ein Schein ist.

  2. Crossmedia hat offenbar Grenzen. Wie kann man auch in einem Medium, das Täuschung und Verdeckung begünstigt, auf schonungslos offene Begegnungen im realen Leben hoffen? Das funktioniert ja schon bei Warenbestellungen nur bedingt.

    Im Volkshochschulkurs ‚Spitzenklöppeln‘, der Pogo-Tanzgruppe, dem Brettspiel-Dojo um die Ecke oder einem neu gegründeten Heavy-Metal-A-Capella-Chor ist die Wahrscheinlichkeit, Menschen ähnlicher Gesinnung offen und ehrlich zu begegnen, sicherlich höher.

    Also: It’s time for the feet to hit the street. Schließlich geht es ja um analoge menschliche Begegnungen und nicht um digitale Brieffreundschaften.

  3. Allem voran: Erwartungshaltung hatte ich keine, nur Neugierde, und Menschen im Freundeskreis, die über virtuelle Räume Freunde, sogar Lebenspartner gefunden haben.

    Ich kann mich nur wundern, daß ich so missverstanden werde.
    Apropos wundern – und das war der Anstoß zu meinem Text: Wie kann man schlechte Photos besetzen, leere Profile onlinestellen, oder schlicht das Blaue vom Himmel herunterlügen, und dann noch ernsthaft hoffen, man würde nicht spätestens bei der ersten Begegnung im wirklichen Leben vor eine Wand laufen?
    DAS ist es, was ich nicht verstehe.

    Probleme mit dem virtuellen Raum an sich habe ich persönlich keine – das kann ja ohnehin nur ein Anknüpfungspunkt sein, nicht mehr. Ich habe drei Jahre lang ein Literaturforum geleitet, online, habe mich online verliebt – diese Beziehung hielt ganz und gar im wahren Leben immerhin drei Jahre, meine beste Freundin in Berlin hätte ich ohne virtuellen Raum nie getroffen, auch andere Freundschaften haben sich von diesem Startpunkt aus entwickelt. Mit unrealistischen Erwartungen habe ich gar nichts am Hut, vielleicht sogar überhaupt nicht mit Erwartungen. Doch – eine hatte ich: etwas mehr Realismus bei den Menschen, die sich auf so einer Plattform umsehen.

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