Mausgrau

Es gibt so Sachen, die hätte man lieber nicht gelesen. Heute erkundigt sich auf der Nachbarschaftsplattform (sic!) eine Dame nach den juristischen Möglichkeiten gegen ihren auf dem Balkon rauchenden Nachbarn vorzugehen, dessen Qualm zöge ‚in ihre Wohnung‘. Binnen kurzem schließen sich dem Gejammer noch drei andere Personen an, schwer leidend unter den Rauchern.
Direkt der nächste Themenbaum feiert im Grunde dasselbe ab, nur ist es hier das ‚Getrampel in der Wohnung über mir‘ oder der Staubsauger vor zehn oder nach neunzehn Uhr.
Mich gruselt es fürchterlich. Mal ganz davon abgesehen, daß ich ‚mir zieht der Rauch in die Wohnung‘ sehr bezweifle – es ist Frühling, ständig geht ein leichter Wind, und wenn mein Nachbar auf dem Balkon kifft rieche ich es auf dem Balkon, ein wenig, aber nicht in meiner Wohnung – frage ich mich: Wo sind wir denn hier?!?
Wie wäre es denn mit ein wenig Toleranz und Gleichmut? Über die Kochgerüche von Nachbarn beschwert sich doch auch niemand. Wir leben hier im schönen Weltkulturerbe ziemlich dicht gepackt, 1929er Bauhaus ist nicht gedämmt, da weiß man doch schon beim Einzug, daß man von den Nachbarn dies oder das mitbekommen wird.

Diese egozentrischen Diskussionen findet man erstaunlicherweise vor allem unter Leuten zwischen 25 und 35 Jahren Lebensalter. Ich kapiere es nicht. Diese Generation erlebe ich – Ausnahmen bestätigen die Regel – als ungeheuer ichbezogen, dogmatisch, unduldsam und überempfindlich. Wie kann das nur sein, daß nach den Boomern mit den krummen Lebenswegen, der Kreativität und Toleranz (Für uns ging das gar nicht anders, wir standen allenthalben zu so vielen anderen in Konkurrenz; um Wohnungen, um Arbeits- und Ausbildungsplätze etcpp. Da wäre ohne Solidarität, gegenseitige Unterstützung und leben und leben lassen ein großes, stressiges Hauen und Stechen ausgebrochen.) eine solche Generation von Spießern herangewachsen ist? Spießertum als identitätsformende Abgrenzung von einer eher lockeren Elterngeneration?

Egal. Mich graust es jedenfalls davor. Wir leben hier in Gemeinschaft, eng beieinander. Und das ist verdammt nochmal! kein Friedhof, sondern eine Wohnsiedlung.

Anbei der Soundtrack zum Thema

5 Kommentare

  1. Wir leben gerade nicht in einer Gemeinschaft. Wir leben zu oft nebeneinander.
    Die gesamte Sozialisation ist auf Ellenbogen ausgerichtet. Nur das eigene Interesse zählt. Der stärkste versucht seine Macht. Höchster Wert Geld und Macht. Siehe den Westen. Das färbt auch nach unten,bis zu den Flüchtlingen und Obdachlosen. Ziemlich düstere Perspektive und von laizess fair im üblichen Sinne meilenweit weg.

    1. Lieber, das ist mir zu pauschal. Ich sehe es deutlich weniger düster als du. Seit ewigen Zeiten und durch eine Menge Städte und Wohnungen lebe ich mit meinen Nachbarn in gutem bis allerbestem Einvernehmen, eventuelle Konflikte haben sich immer mit Gesprächen und viel Freundlichkeit bereinigen lassen. Ich werde also sicher nicht über eine ganze Gesellschaft den Stab brechen. Es scheint allerdings so, als habe eine bestimmte Generation eine Erziehung zum Egotripper erhalten, doch auch da könnte ich mich täuschen. Wo ich mir allerdings sehr sicher bin, das ist das Umsichgreifen einer Spießigkeit, die sehr nach den 50er Jahren riecht, verstaubt, verkrampft und unfroh.

      1. Pauschal stimmt, stimmt nicht.
        Die Gesellschaftsideale bestimmen die Sozialisation. Nimm nur die Blogger – innen, und außen und anderswo. Deren Werte sind 100 Jahre hinter Deinen. Ausnahmen und Gegenbewegung gibt es auch immer. Das tröstet aber nur wenig.

        1. Ich bin optimistischer und vertraue auf den Pendelschlag, dem ich schon mein ganzes Leben lang zusehe. Idioten und kaltherzige Egozentriker wird es immer geben. Es gibt aber auch immer mehr Menschen (die gar nicht mehr so schweigende Mehrheit, davon bin ich überzeugt), denen klar geworden ist, daß hier etwas grundlegend falsch läuft und daß Veränderung mit einem selbst beginnen muß.
          Und mit der nächsten Generation fallen dann auch die freudlosen Spießer nicht mehr so ins Gewicht. 😊😊

        2. Noch eine Anmerkung: Wir sind die Boomer und wir sind viiiiiiile. Wenn sich da etwas rührt, wird man uns nicht einfach zur Seite drücken können.

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