Über Liebe lesen

Es gibt Bücher und Geschichten, die packen dich einfach. Jeden Satz möchtest du unterschreiben, und ohnehin fühlt sich der Text so an, als wäre er entweder von dir oder für dich geschrieben. :)
Mir ist das länger nicht mehr passiert, aber jetzt wieder: Mit der Kurzgeschichte ‚Der Andere‘ von Bernhard Schlink. Ein Ehemann entdeckt nach dem Tod seiner Frau, daß diese einen Geliebten hatte, über längere Zeit zwei Leben geführt hat.

Aus einem Brief des Anderen an die Frau:

Du findest, ich hätte es Dir damals nicht so schwer machen sollen, ich weiß. Ich stimme Dir nicht zu, auch heute nicht. Und doch bin ich, wie ich damals nicht wußte und heute weiß, schuldig geworden. Auch Du bist es. Wie lieblos sind wir beide damals mit unserer Liebe umgegangen! Wir haben sie erstickt, Du mit Deiner Ängstlichkeit und ich mit meinen Forderungen, und hätten sie wachsen und blühen lassen können. Es gibt die Sünde des ungelebten Lebens, der ungeliebten Liebe. Du weißt, daß eine gemeinsam begangene Sünde die, die sie gemeinsam begangen haben, auf immer verbindet?

Die letztlich doch stattfindende Selbstreflexion des Ehemannes:

Er hatte so sehr auf das geschaut, was er von den anderen kriegte oder nicht kriegte, daß er gar nicht gemerkt hatte, wie es um sie stand. Ihm fiel sein Kampf gegen den Lärm der Kinder und ihrer Freunde ein. Der fröhliche Lärm war für ihn nur eine Mißachtung seines Bedürfnisses nach Ruhe gewesen. Er fand in seinen Erinnerungen nichts, was ihm die Frage beantwortete, ob es zwischen Lisa und dem Anderen nach dem letzten Brief weitergegangen war. Manchmal war Lisa in jenem schwierigen Jahr auf ihn zugegangen, und er hatte sie zurückgestoßen, wenn auch nur, damit sie ihn trotzdem und erst recht liebe – wie ein Kind. […]Lisa war nicht mit dem Anderen fröhlich gewesen und mit ihm nicht, war mit dem Anderen nicht fröhlicher als mit ihm gewesen. Lisa hatte auf vielfältige Weise fröhlich gegeben, fröhlich genommen und andere fröhlich gemacht. Die Fröhlichkeit, die sie ihm gegeben hatte, war keine geringere, sondern gerade die, der sich sein schwerfälliges und griesgrämiges Herz öffnen konnte. Sie hatte ihm nichts vorenthalten. Sie hatte ihm alles gegeben, was er zu nehmen fähig gewesen war.

Eine phantastische Geschichte darüber, daß vielleicht jeder Mensch für jeden anderen Menschen immer wieder ein anderer ist. Ein Geschichte darüber, was passieren kann, wenn man einen wesentlichen Teil eines anderen Menschen einfach nicht (oder nicht mehr) sieht – und darüber, daß es verdammt ganz andere Gründe für Schweigen geben kann als Angst und Feigheit, und ganz andere Gründe für ein Doppelleben als Egoismus und Rücksichtslosigkeit.
Ich bin eigentlich kein Fan von Bernhard Schlink, aber hier bin ich ganz bei ihm – und begeistert. Schöneres habe ich selten über das große Thema Liebe gelesen. Die Verfilmung übrigens (Regie Richard Eyr, Hauptrollen Liam Neeson, Laura Linney, Antonio Banderas) gefiel mir überhaupt nicht – die wesentlichen Züge der zugrunde liegenden Geschichte fallen dort einfach unter den Tisch.

Wer den Text lesen möchte findet ihn in dem Band ‚Liebesfluchten‘ von Bernhard Schlink, erschienen bei Diogenes, Zürich 2000.

[Textauszüge: © Diogenes Verlag]